• Guédelon

Mittelalterlicher Burgbau im 21. Jahrhundert

In der Nähe des burgundischen Auxerre ist es dem modernen Menschen möglich, sich auf eine Art „Zeitreise“ ins Mittelalter zu begeben. In Guédelon wird eine Burg mit den Verfahren und Materialien des Hochmittelalters geschaffen.

 

Eine mittelalterliche Baustelle

Der passionierte Initiator dieses Großprojekts, Michel Guyot, beschäftigte sich schon zuvor mit der Erhaltung und Instandsetzung von Burgen. Nach der Restaurierung einer nahe gelegenen Burg kam ihm die Idee, selbst eine mittelalterliche Festung mit größtmöglicher Authentizität zu errichten.
Anfangs wurde seine Idee belächelt, dank genügend Enthusiasmus erhielt er jedoch staatliche Subventionen, sodass im Juni 1997 der Grundstein für dieses Projekt gelegt werden konnte. Mittlerweile trägt sich das Projekt, das bis 2023 fertiggestellt werden soll, selbst durch Eintritte und Souvenirverkäufe.

 


Wer sich auf die Baustelle in Guédelon begibt, erfährt das Mittelalter auf vielfältige Art und Weise, sozusagen mit allen Sinnen. Er erlebt eine äußerst ungewöhnliche Geräuschkulisse, statt Teer riecht er Pferde und sieht die Bauarbeiter in ihren mittelalterlichen Gewändern ungewohnt anmutenden Tätigkeiten ausführen, wie beispielsweise das Schmieden von Werkzeugen. Indem gänzlich auf alle künstlichen Materialien wie beispielsweise Plastik – bis auf sicherheitsrelevante Schutzbrillen – verzichtet wird und die Bauenden selbst mittelalterlich gewandet sind, erscheint das Projekt dem Publikum sehr authentisch.
Der Besucher kann den Steinmetzen, Fuhrleuten, Seilern, Schmieden und Maurern bei der Arbeit zusehen und ihnen auch Fragen stellen. Sie erklären dem Publikum die angewandten Techniken und führen den Interessierten so in die Herausforderung eines solchen Großprojekts ein, das ganz ohne Schlagbohrmaschine und Presslufthammer auskommt.  
Die Bauarbeiter stützen sich bei ihrer Arbeit auf authentische Dokumente. Wo diese jedoch fehlen, werden Erkenntnisse mit Hilfe von wissenschaftlichen Experimenten und Analysen erworben. So wurden beispielsweise durch reine Muskelkraft betriebene Trommelwinden nachgebaut, die Lasten bis 500 kg bewegen können.
Auch die Konsistenz von mittelalterlichem Mörtel wurde durch chemische Untersuchungen bestimmt und konnte so beim Bau von Guédelon nachgeahmt werden.
Neben den etwa 50 Festangestellten arbeiten auch einige Freiwillige und Praktikanten an dem Burgbau mit. Bei den Projektmitarbeitern, die unterschiedlichste berufliche Hintergründe haben, zählt vor allem die Leidenschaft für dieses Vorhaben sowie die Freude an der lebendigen Vermittlung.
So wird dem Besucher ein Bild des Mittelalters vermittelt, das die damaligen baulichen Leistungen unterstreicht und zum Staunen anregt.

Experimentelle Archäologie

Dieses Projekt fügt sich in den Reigen einiger ähnlicher Vorhaben ein, die man dem Feld „Experimentelle Archäologie“ zuordnet. Experimentelle Archäologie stellt eine Verbindung zwischen Fundstück und wissenschaftlicher Theorie her, indem sie die theoretischen Lücken durch praktische Versuche zu füllen sucht. Wenn man beispielsweise bei der Analyse von Fundstücken auf Ungereimtheiten trifft, versucht man diese durch Rekonstruktion auszuräumen. Auftretende Probleme, etwa in Fragen der Verarbeitung und Materialnutzung, versucht man durch wissenschaftliche Experimente und Forschung zu lösen. Dabei dienen diese Verfahren aber nicht nur dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern erweisen sich auch für eine didaktische Nutzung als sehr geeignet.
Dies zeigt sich auch in Guédelon. So liegt es den Initiatoren sehr am Herzen, dass den Besuchern „ihrer“ Burg ein lebendiges, möglichst präzises Bild einer mittelalterlichen Burgbaustelle geboten wird. Pro Saison besuchen etwa allein 60.000 Schüler diese mittelalterliche Baustelle, wobei sie so einen direkten Bezug zur Vergangenheit erhalten und ihr Geschichtsverständnis vertieft wird.

Verfasserin: Amelie Pluschke


Literatur und Links:

  • http://www.guedelon.fr/de
  • Minard, Philippe; Folcher, Francois: Guédelon. Fanatics for a fortress. Geneva 2003.
  • Fansa, Mamoun (Hrsg.): Experimentelle Archäologie und Museumspädagogik. Oldenburg 2000.
  • Trachsel, Martin: Ur- und Frühgeschichte, Quellen, Methoden, Ziele. Zürich 2008.
  • „Wenn vor allem die eigene Muskelkraft zählt“, in „Rhein Zeitung“ vom 28.10. 2004, S. 26
 
Hinweis: Diese Webseite wird vom IGL auch Jahre nach Abschluss des Projekts weiterhin zur Verfügung gestellt. Die unten angezeigten Inhalte sind aber veraltet und spiegeln möglicherweise nicht den aktuellen Forschungsstand wider. (Klicken Sie auf diese Meldung, um sie auszublenden.)