Warum ist es am Rhein so schön?
Oder: Die Wiederentdeckung des Mittelalters
Burgruinen gibt es viele am Rhein. Es gibt sie und es hat sie auch immer gegeben, zumindest aus der Sicht der Menschen, die dort wohnen. Daher wurde ihnen auch über einen großen Zeitraum keine Beachtung geschenkt: Was immer da ist, ist nichts besonderes.
Die „Entdeckung“ des romantischen Rheintals
Dieses Bild änderte sich gegen Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Brüder August und Friedrich Schlegel, Professoren aus Jena, gehörten zu den Ersten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kulturlandschaft am Rhein mit besonderen Augen sahen. Angesichts der beginnenden Industrialisierung mit all ihren negativen Begleiterscheinungen wandte man sich der Natur und der Vergangenheit zu. Friedrich Schlegel beschreibt seinen Eindruck von einer Rheinfahrt im Jahr 1806: „Für mich sind nur die Gegenden schön, welche man gewöhnlich rau und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, nur erhabene Gegenden können schön sein, nur diese erregen den Gedanken der Natur. [...] Nichts aber vermag den Eindruck so zu verschönern und zu verstärken als die Spuren menschlicher Kühnheit an den Ruinen der Natur, kühne Burgen auf wilden Felsen – Denkmale der menschlichen Heldenzeit, sich anschließend an jene höheren aus den Heldenzeiten der Natur.“[1]
Zudem zeugten die Burgen von Wehrhaftigkeit, von vergangener Größe und Stärke, die es in einem Deutschland wiederzuentdecken galt, dass damals in unzählige Klein- und Kleinststaaten zersplittert vom „Erbfeind“ Frankreich besetzt war. Angesichts der Ruinen konnte über die Vergänglichkeit des Lebens sinniert werden, aber auch ein aufkommender Patriotismus fand hier am „deutschen Rhein“ seine Wurzeln.
Die Begeisterung für diese Ruinen, die wilde und unwegsame Natur und für die steilen weinbewachsenen Hänge fand Ausdruck in zahlreichen Gemälden, Gedichten und Reiseberichten. Insbesondere in dem mehr und mehr industriell geprägtem England stieß das wild-romantische Rheintal auf Interesse: William Turner sorgte mit seinen Gemälden als einer der ersten dafür, dass sich das Rheintal von einer bloßen Durchreiseregion auf der klassischen Bildungsreise nach Italien zu einer touristischen Adresse ersten Ranges entwickelte. Neben der Schweiz mit ihren Alpentälern wurde das Mittelrheintal mit seinen Burgen und Felsen zu einer Modelandschaft, einem touristischen „Muss“.
Alter Stil oder Neuschöpfung: der Historismus
Viele Fürsten und reiche Privatleute zeigten Interesse an den Burgruinen und beschlossen, diese wieder aufzubauen, wobei sich aber oft an den Zeitgeist gehalten wurde: Man baute, wie man sich das Mittelalter vorstellte bzw. vorstellen wollte. So entstand Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts – auch durch den Weiterbau des Kölner Doms beeinflusst – der Historismus, bei dem man auf ältere Stilrichtungen zurückgriff und diese nachahmte. Eines der herausragendsten Werke dieser Wiederaufbauphase in der Rheinromantik ist Schloss Stolzenfels bei Koblenz. Die Mitte des 13. Jahrhunderts errichtete Zollburg wurde 1689 zerstört und verfiel weitgehend. Die Stadt Koblenz schenkte die Ruine 1815 dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der sie bis 1842 unter Mitwirkung Karl Friedrich Schinkels zu einem Sommersitz ausbauen ließ. Auffallend ist im Mittelrheintal, dass auch Profanbauten, wie die Einfahrten der Eisenbahntunnel den Rheinburgen angepasst scheinen, mit Türmchen und Zierrat ganz im Stile der Neogotik.
Historiker statt Historismus
In den 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts erlebte das Rheintal Kegelclub-Ausflüge, billigen Rheinwein und Massentourismus aus Japan und den USA. Heute wird wieder mehr Wert auf Anspruch und Wissenschaftlichkeit gelegt. Vielerorts werden nächtliche Führungen durch die mittelalterlichen Orte angeboten, Ausstellungen belegen die Bedeutung der Burgen und Städte, Mittelaltermärkte rücken die Burgen in ein „historisches“ Bild. Daher zeigt sich auch die Marksburg, die einzige nie zerstörte Höhenburg am Mittelrhein, so, wie sie wahrscheinlich einst ausgesehen hat: Im Rahmen von Sanierungsarbeiten wurde sie aufgrund mittelalterlicher Befunde verputzt und ist heute eine Vorzeigeburg wie aus einem Ritterroman.
Neben den Reben und der wild-romantischen Natur geben auch diese mittelalterlichen Burgen dem Rheintal sein unvergleichliches Aussehen und seine Wirkung. So hat auch Adolf von Bergsattel in seinem Lied „Warum ist es am Rhein so schön?“ geantwortet: „Weil selbst aus den Burgruinen neuer Hoffnung Triebe grünen“. Darum ist es am Rhein so schön.
[1] in: Ernst Behler: Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 5. Auflage, S. 100f.
Verfasser: Hasko Externbrink