Musik des Mittelalters
Die Erben der Minnesänger und Spielleute?
Mittelalterliche Musik heute – bei diesem Thema existieren in vielen Köpfen die verschiedensten Assoziationen. Die Bilder sind dabei sehr weit gefasst: Von Dudelsäcken, Balladen, Lauten und Minnesängern bis hin zu langen Haaren, Märchen, „Halligalli-Musik“ sowie dunkelgrünen Pluderhosen und Musikern in Fell- und Lederkleidung reichen die Vorstellungen. Auf den immer beliebteren Mittelaltermärkten sind die dort auftretenden „historischen“ Ensembles und Spielleute eine der Hauptattraktionen, die Jung und Alt begeistern.
Aber wie mittelalterlich sind die dargebotenen Interpretationen wirklich? Bei näherer Beschäftigung mit der Theorie der mittelalterlichen Musik zeigt sich bald: Die Kluft zwischen historischer Authentizität und moderner Interpretation ist groß. Dieser Umstand liegt zum einen an der schwierigen Überlieferungslage: Die Schrift besaß im Mittelalter nur eine Erinnerungsfunktion, Gesänge und Instrumentalstücke wurden meist mündlich weitergegeben, die Begleitmusik improvisiert. Auch existiert nur für einen ganz geringen Prozentsatz der in den verschiedenen Handschriften überlieferten Lieder neben dem Text auch eine zugehörige Melodie; ist aber eine Melodie überliefert, ergeben sich zudem Schwierigkeiten bei der Auflösung der mittelalterlichen Notationen – denn die ältesten Notenzeichen, Neumen genannt, zeigten zwar ab dem 9. Jh. den ungefähren Verlauf der Melodie an, konnten aber weder den Rhythmus noch die Tonhöhe oder -dauer exakt festhalten und dienten dadurch eben vor allem als Erinnerungshilfe. Sie entwickelten sich außerdem mit regionalen Unterschieden und wurden erst im Laufe der Zeit immer exakter, zum Beispiel durch die Einführung von Notenlinien im 11. Jh., die aber durchaus nicht immer verwendet wurden. Auch die Rekonstruktion der Instrumente gestaltet sich schwierig: Nur wenige sind erhalten geblieben, so dass das Wissen über die Instrumente und ihre Spielweise aus ikonographischen Zeugnissen, musiktheoretischen Schriften und literarischen Beschreibungen abgeleitet werden muss.
Dies sind nun natürlich nur kurze und oberflächliche Schlaglichter auf die komplexen Problemfelder der mittelalterlichen Musiktheorie und -praxis, verdeutlichen aber die Problematik, deren man sich gegenüber gestellt sieht.
Die Rekonstruktion einer authentischen Aufführungspraxis wird also zu einer Herausforderung für den modernen Musiker, der sich zudem mit der Aufgabe konfrontiert sieht, sich in mittelalterliche Gedankenwelten und Ästhetiken hineinzudenken, die für den heutigen Menschen teilweise kaum oder nur schwer nachvollziehbar sind. Folgerichtig sind sich die meisten Musiker dieser Problematik nur allzu bewusst; Michael Popp von der Gruppe Estampie äußerte in diesem Zusammenhang: „Manchmal, wenn ich eine Estampie-CD in den Händen halte, stelle ich mir vor, Walther von der Vogelweide stünde nach einer Zeitreise neben mir. Und ich wollte ihm erklären, daß auf dieser Scheibe seine Musik zu hören ist. Der würde mich – oder sich – für verrückt erklären. Er würde überhaupt nicht verstehen, was und warum ich das mache. Da dämmert es mir, daß ich vermutlich genauso wenig von seinem Leben und seinem Dasein als Musiker verstehe.“
Angesichts dieses Problems entwickeln sich die Interpretationen in zwei grobe Hauptrichtungen. Auf der einen Seite steht die historische Aufführungspraxis: Hervorgegangen aus der Musikwissenschaft versteht sie sich als „Schnittpunkt zwischen der Forschungstätigkeit des Wissenschaftlers und der Tätigkeit des Musikers“ und versucht, alte Musik mit alten Instrumenten und im Stil der jeweiligen Zeit möglichst genau zu rekonstruieren und wiederzugeben, also ohne sie an moderne Hörgewohnheiten anzupassen. In Instituten wie der Schola Cantorum Basiliensis in Basel werden professionelle Musiker und Laien ausgebildet und gleichzeitig intensive Forschungen betrieben. Auf der anderen Seite sucht der Großteil der heutigen populären „Mittelaltermusiker“ dagegen bewusst die Abgrenzung von einer authentischen Aufführungspraxis und die Begegnung historischer Musik mit der Moderne – in verschiedenen Abstufungen, von sogenannter „Ethno-Worldmusic“ mit durchaus großem musikwissenschaftlichem und mittelalterlichem Hintergrund bis hin zu moderner Musik mit leichten mittelalterlichen Einsprengseln.
Eine Mischung dieser beider Interpretationsrichtungen, also aus theoretischem Hintergrundwissen und modernen Akzenten, findet sich zum Beispiel in der Musik des bereits erwähnten Ensembles Estampie aus München, welches bereits 1987 den internationalen Wettbewerb für Alte Musik in Amersfoort gewann. In ihren Stücken machen sie mittelalterliche Musik lebendig – soweit das heute überhaupt möglich ist – doch verstehen sie sich dabei als Erneuerer, nicht Bewahrer dieser Musik; Michael Popp bringt die Problematik noch einmal klar auf den Punkt: „Wir machen keine Mittelaltermusik wie im Mittelalter. Das verwechseln viele Leute. Wir machen Musik über unsere Vorstellung vom Mittelalter.“ Denn letztendlich ist eine wirklich authentische Wiederbelebung mittelalterlicher Musik eben kaum möglich: Sie wird – neben den erläuterten Rekonstruktionsschwierigkeiten – immer interpretiert und rezipiert von modernen Menschen mit modernen Hörgewohnheiten und kulturellen Hintergründen, die sich unwiederbringlich von denjenigen der mittelalterlichen Menschen unterscheiden müssen. Insofern kann jegliche „Mittelaltermusik“ der heutigen Zeit nur eine Begegnung mit und eine Reflexion über vergangene Zeiten sein, die zu einem lebendigen Dialog der Vergangenheit mit der Gegenwart führen sollte.
Verfasserin: Kerstin Hetzel
Literatur und Links:
- Reidemeister, Peter: Historische Aufführungspraxis. Eine Einführung. Darmstadt 1988.
- Diehr, Achim: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin 2004.
- www.bloom.de/articles/article_002486_php4.htm (Interview Estampie)
- www.ragazzi-music.de/interviews/estampie.html (Interview Estampie)
- www.myspace.com/estampie